27. Oktober 2021
T: [hört wunderbare Musik von Ludovico Einaudi]
U: Wusstest du, dass Künstler uns ortsgebundene Götter ganz besonders erfreuen, wenn sie draußen spielen, singen, malen? Dass wir uns über jeden freuen, der einem Baum ein Gedicht vorliest? Wer die Götterwelt nicht versteht, kann hier nur den Kopf schütteln. Sobald du aber etwas von der Magie der Worte und der Orte verstehst, fügt sich alles zu einem schlüssigen Bild zusammen, in dem du im Idealfall deinen wunderbaren, einzigartigen Platz findest. Ein Beispiel: Es gibt da eine Frau, die du ziemlich um ihren Gesang beneidest, sie hat eine große Hörerschaft auf YouTube.
T: Ich weiß, wen du meinst. Ich habe die Bilder direkt im Kopf. Die Frau heißt Jonna Jinton und ist Schwedin. Sie macht wunderschöne Videos und sie kann gut im »Kulning«-Stil singen – diesem magischen Stil aus dem Norden, mit dem früher auch die Herden heim gerufen wurden.
U: Ihre Arbeit erfreut ihre dortigen Götter sehr. Wie sie immer wieder zeigt, wohnt sie umgeben von fantastischer Natur, und sie ist sich mit jeder Faser ihres Seins bewusst, wo in dieser Umgebung ihr Platz ist. Und, das ist besonders wichtig, sie liebt diesen Platz. Sie ist mit sich hundertprozentig im Reinen. Wenn sie singt, dann hören die Seen und Berge ihr zu. Manchmal sagt ihr das aus einem poetischen Gefühl heraus ... aber es ist absolute Tatsache. Sie erfreut die dortigen kleinen Götter überaus. Auch ich freue mich, wenn auf meiner Insel Musik gemacht wird ... aber in den letzten zehn Jahren wurde fast nur noch Musik aus traurigem Anlass gemacht. Dabei bin ich nicht besonders wählerisch: Die Musik mit Gitarre am Jugend-Lagerfeuer hat mir ebenso gut gefallen wie die Darbietungen von Streich-Ensemble oder Trommelschamanen. All das ist so rar geworden, wo meine Ohren ins weiche Gras gebettet sind.
T: [schnieft]
U: Entschuldige. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, dich nicht zum Weinen zu bringen, aber dieses Vorhaben musste ich wohl schon an unserem ersten Tag begraben.
T: Ist schon gut. Begraben ... gibt es Leute, die auf Utøya begraben sind?
U: Nein, das ist seit langer Zeit nicht vorgekommen. Du kannst nicht offiziell auf Utøya zur Ruhe gebettet werden als Mensch. Früher ja. Der Stamm hat dich im Allgemeinen dort begraben, wo du gestorben bist.
T: Wenn du mir erzählst, bekomme ich große Lust, zu dir zu reisen und für dich zu singen.
U: Das würde mich wirklich freuen. Ich würde mir wünschen, dass das Lachen auf meine Insel zurückkehrt. Dass die Kinder wiederkommen, die mir die Zeit vertrieben. Ich vermisse das Gewusel. Ich bin eigentlich kein mütterlicher Typ, und natürlich haben mich die Menschen oft genervt oder gepiesackt ... aber nun sind sie fort, und ich bedaure es.
T: Du kannst nie fort sein, oder? Du sagtest vor ein paar Tagen, wenn du die Insel verließest, würdest du ihre ureigene Schwingung mit dir fort nehmen. Also kannst du nie ... »Urlaub machen«? Mal pausieren von deinem Auftrag?
U: Deine Worte hier gehen in die falsche Richtung. Sie sind sehr ungenau. Da Utøya nicht mein Job ist, kann ich keinen »Urlaub machen« – und das brauche ich auch gar nicht. Und das Wort »Pause« macht für Menschen zwar Sinn (Schlaf, Meditation), aber für mich nicht, denn ich bin ja im Grunde immer in einer einzigen, langanhaltenden Meditation. Mein Bewusstsein schwingt automatisch auf der meditativen Ebene ... und davon ist nie Pause nötig. Außerdem: Ist es dein »Auftrag«, ein Mensch zu sein?
T: Nun ja, man könnte es so formulieren! Diese Inkarnation ist mein momentaner Auftrag.
[Timer abgelaufen.]
U: Nein nein nein. Diese Inkarnation ist dein momentaner WILLE, das ist etwas ganz anderes. Deine momentane Spielwiese. Das Bild, das du momentan malst. Das Blatt, das du momentan beschreibst. Niemand beauftragt dich, Mensch zu sein – nicht einmal Alles-was-ist hat diese Befehlsgewalt über dich. Alles-was-ist hat ein bestimmtes Set an Regeln aufgestellt, ihr nennt sie im allgemeinen Naturgesetze – wobei ihr die meisten davon noch nicht wirklich entdeckt habt, weil ihr den Bereich »Paranormal« nicht zu den Naturgesetzen hinzuzählt. Das müsstet ihr aber. Alles-was-ist befiehlt dem Licht nicht, sich in Pflanzen zu verwandeln. Alles-was-ist hat den Mechanismus der Elektronenfalle ermöglicht, was das Wunder möglich macht, dass Pflanzen aus dem nichts Materie machen. Alles-was-ist hat den Magnetismus erdacht, und dieser ermöglicht abermilliarden Prinzipien von hingehen und abstoßen, taumeln und verweilen – sowohl körperlich als auch nicht-körperlich.
T: Das ist ein sehr faszinierendes Thema, ich danke dir. Ich muss jetzt Schluss machen, aber ich bemühe mich, morgen wieder für dich zu schreiben.
U: Das würde mich auch sehr freuen. Es tut gut, einige Dinge mal loszuwerden. Und wer weiß? Vielleicht erhören mich die letzten Schamanen des Nordens, weil sie von dir und deiner Arbeit erfahren.
T: Das wäre schön. Ich würde dir wünschen, dass du die Aufmerksamkeit wieder erhältst, die einer Göttin würdig wäre.
U: Die Zeit heilt alle Wunden. Hier lügt euer Volksmund nicht. Aber es wäre schön, wenn ich nicht so lange warten müsste. Bis morgen.
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